Carpe diem – Leistungsdruck oder Aufruf zur Balance?

Was immer du zu tun vermagst, das tu. Denn weder Tun noch Planen, weder Wissen noch Weisheit gibt es im Totenreich, dahin du gehst. Kohelet 9,10

Seit über einer Stunde sitze ich nun daran, einen roten Faden für meinen „Gedanken zum Tag“ für die Website meiner Praktikumsgemeinde zu finden. Es mag mir nicht recht gelingen. Gedankenfäden fransen immer wieder aus und die Konzentration lässt zu wünschen übrig.

Die heutige Tageslosung, bei der ich Inspiration suchte, bewirkt das Gegenteil; der Vers (Koh 9,10) macht mir Beine: Die Zeit läuft unaufhaltsam – und irgendwann ist sie abgelaufen. Also gilt es, sie zu nutzen. Der Lehrtext aus Römer 12,11 stösst ins gleiche Horn: «Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt.“ Träge bin ich nicht, aber abgelenkt, durch den Blick aufs Smartphone und das Kaffeegespräch mit den Mitbewohnern im Home Office. Keine Spur von protestantischem Arbeitsethos heute.

«Was immer du zu tun vermagst, das tu.“ Imperativ, im Grundtext noch mit dem betonenden Nachsatz „mit deiner Kraft“. Will mir Kohelet, der geheimnisvolle Autor des Predigerbuches, ein schlechtes Gewissen machen? 

Nein. Er will etwas ganz anderes. Kohelet macht auf die Vergänglichkeit des Lebens aufmerksam, auf die Einmaligkeit jedes Moments. Die drei Verse gleich vor der Tageslosung lauten:

«Auf, iss dein Brot mit Freude, und trink deinen Wein mit frohem Herzen; denn längst schon hat Gott dieses Tun gebilligt. Jederzeit seien deine Kleider weiss, und an Öl auf deinem Haupt soll es nicht fehlen. Geniesse das Leben mit einer Frau, die du liebst, all die Tage deines flüchtigen Lebens, die er dir gegeben hat unter der Sonne, all deine flüchtigen Tage. Das ist dein Teil im Leben, bei deiner Mühe und Arbeit unter der Sonne.“ (Koh 9,7-9)

Die Betonung des Diesseits war damals eine Gegenreaktion auf Strömungen, die nur das Jenseits betonten. Der Mensch soll aufmerksam sein für die Anforderungen des irdischen Lebens, für die Gottesmomente im Diesseits, auch für die Gelegenheiten, die der Alltag bietet, um innezuhalten und zu geniessen. Kohelet ruft zu einer gesunden „Work-Life-Balance“ auf. Dem Kaffeegespräch Raum geben. Den Anruf einer Freundin annehmen. Die Gedanken beim Blick aus dem Fenster, auf die regengetränkte Natur, schweifen lassen. 

Ein Text kommt mir in den Sinn, den ich am Sonntag wieder gehört habe, dem sogenannten „Hirtensonntag“: Psalm 23. Auch er anerkennt die Glücksmomente sowie die Schwierigkeiten des irdischen Lebens. Und verortet sie – noch etwas expliziter als Kohelet – in Gottes Hand.

Der Wein, den man mit frohem Herzen trinken darf, das duftende, pflegende Öl in den Haaren, alle Tage unseres Lebens, an denen wir arbeiten und ausruhen: Sie sind ein Geschenk Gottes und wir dürfen sie in Gottes Begleitung verbringen.

Foto: Jason Briscoe, Unsplash

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