Immer mehr Christen gehören nicht zu einer Kirche, sondern sind «Indie-Christen». Viele wurden von (Frei-)Kirchen enttäuscht oder ihnen wurde diese Art von Gemeinschaft zu eng. Chancen und Herausforderungen dieses Glaubensmodells.
Im November hielt ich auf Einladung des IGW einen Vortrag, in dem es um Menschen ging, die eine kirchliche Gemeinschaft verlassen.
Du kannst dir den Talk hier anschauen, musst ihn aber nicht gesehen haben, um den Artikel weiterzulesen.
Zwei Dinge waren mir dabei wichtig, zu vermitteln:
- Nicht alle, die «gehen», tun dies schnell und leichtfertig. Häufig ist es ein schwieriger, schmerzhafter Prozess, in dem man sich auch sehr allein fühlt.
- Menschen, die eine Kirche oder Freikirche verlassen, hören in den meisten Fällen nicht auf, an Gott zu glauben.
Der Puls der Zeit
Ich glaube, es handelt sich hier um ein hochaktuelles Thema.
»Die vielen Konfessionslosen heute sind keine befreiende Entwicklung, sondern eher eine Notlösung. Viele sind weiterhin auf der Suche nach Sinn und Halt, können sich aber in den bestehenden Institutionen nicht wiederfinden.»
So wurde kürzlich Monika Stocker zitiert, ehemalige Politikerin und früher Co-Redaktionsleiterin der theologischen Zeitschrift «Neue Wege».
Was sind «Indie-Christ*innen»?
Aus dem englischsprachigen Raum stammen Bezeichnungen wie «De-churched» oder «Exvangelicals». Reba Riley hat vor ein paar Jahren das Buch geschrieben «Post-Traumatic Church Syndrome«, und ich kenne einige, die sich damit gut identifizieren könnten.
Im Gegensatz zu «Indie-Christen» betonen diese Bezeichnungen aber das, was man hinter sich gelassen hat, deswegen finde ich sie nicht optimal.
Einer meiner Freunde lieferte mir für diese Leute, die zwar an Gott glauben, aber nicht kirchlich verbunden sind, den Ausdruck «Indie-Christen». Ich mag diesen Begriff, denn ich assoziiere ihn mit Offenheit, Querdenken. Und doch bleibt die Selbstbezeichnung «Christ».
Ein anderer Freund, Reto, spricht von «himmlischen Weltverbesserern» und «selbständigen Jesusnachfolgerinnen».
«Himmlische Weltverbesserer» schliesst auch Menschen ein, die sich nicht als Christen bezeichnen würden. Das macht das Konzept anschlussfähig für Menschen anderen Glaubens oder Agnostiker*innen.
Aus der Kirche geflogen
Häufig haben «Indie-Christen» einen kirchlichen oder freikirchlichen Hintergrund.
Sie wurden in diesen Gemeinschaften enttäuscht – entweder zwischenmenschlich oder weil sie dort keine befriedigenden Antworten auf ihre Lebensfragen fanden.
Also haben sie sich abgelöst oder wurden sogar zum Ausstieg gedrängt (auch einzelne solche Fälle kenne ich).
Dies soll keine pauschale Schuldzuweisung sein, dies wäre nicht fair und würde der Komplexität solcher Geschichten auch nicht gerecht werden.
Mein Punkt ist: Mit «Indie-Christen» meine ich nicht in erster Linie die Menschen, die sich als «irgendwie spirituell» bezeichnen. Sondern solche mit klarem christlichen Hintergrund, die sich jedoch in einer Kirche nicht am rechten Ort fühlen.
Online-Umfrage unter Ex-Freikirchlern
In der Vorbereitung zu meinem Vortrag habe ich eine Online-Umfrage durchgeführt, an der ca. 40 Leute teilgenommen haben. Es ging mir vor allem darum, herauszufinden, ob und wie diese «Ex-Evangelicals» jetzt glauben.
Bei einem Klick auf den Tweet unten öffnet sich ein «Twitter-Thread», d.h. eine Reihe von Tweets, in denen ich die wichtigsten Resultate der Umfrage zusammenfasse.
Individuell, aber nicht allein
«Indie-Christ» bedeutet aber nicht «Solo-Christ», wie es in einem Schweizerdeutschen Jugendgruppen-Klassiker heisst.
Das ist der Haken an der Wortkreation «Indie-Christ»: Niemand ist wirklich «independent» (unabhängig).
Sondern es gibt ein Netzwerk von solchen Menschen.
Nichts offizielles.
Ich stelle es mir vor wie ein Pilzmycel: Aus dem Waldboden schauen sichtbar die Pilzli raus, neben Bäumen, Insekten, im Laub, zwischen Blumen. Sie scheinen unabhängig dort zu wachsen. Aber in Wirklichkeit sind sie unterirdisch miteinander verbunden.
Es gibt ein Geflecht von Fäden, über die die Pilze zusammenhängen, wachsen und kommunizieren. Das ist eben das «Mycel».
Bzw. eigentlich handelt es sich bei dem Ganzen um EINEN Pilz, und das, was wir als «Pilze» bezeichnen, sind quasi die Blüten davon.
Institutionalisierung wäre ein Fehler
Weil mir meine fellow Indie-Christen sehr am Herz liegen, kommt immer wieder auch der Gedanke, dieses Netzwerk stärker zu festigen.
Eine Facebook-Gruppe zu gründen, dem Ganzen einen Namen zu geben, Treffen zu veranstalten. Eine neue «Fresh Expression of Church» zu gründen.
All dies kann bereichernd und inspirierend sein.
Bestrebungen dazu sind an verschiedenen Orten im Gange: In den letzten Wochen habe ich mit mehreren Menschen gesprochen, die sich ähnliche Überlegungen machen wie ich.
Doch ich bin überzeugt davon, dass es ein Fehler wäre, das Netzwerk vollständig zu institutionalisieren zu versuchen.
Die Gefahr wäre zu gross, ein System zu reproduzieren, das offensichtlich für die Menschen in diesem Beziehungsnetz nicht funktioniert hat.
Ein lebendiges, freies Netzwerk
Meine Gedanken und meine eigenen Erfahrungen habe ich in einem Mindmap gesammelt:
Einige Überlegungen dazu:
Mit einem freien Beziehungsnetz, online wie offline, bieten sich viele Chancen und man meidet Gefahren, die in einem institutionalisierten Netzwerk auftauchen.
Es gibt kein «innen – aussen», sondern die Struktur besteht aus Beziehungen, Freundschaften, Bekanntschaften. Natürlich entstehen auch hier «Bubbles», Freundeskreise oder engere Verbindungen. Aber grundsätzlich kann jede*r dazugehören.
Auch (!) Menschen, die fest in einer Kirche dabei sind, aber nicht in den Kategorien «innen – aussen» denken und Kirchenzugehörigkeit nicht für eine Bedingung des christlichen Glaubens halten.
Kleine nicht-kirchliche Gemeinschaften (Familien, Freundeskreise, Hauskreise…) bilden starke Pfeiler dieses Netzwerkes.
Darüber hinaus verbindet jede*r Indie-Christ individuell Freundeskreise, Social-Profile, vereinzelte Kirchenbesuche, lässt sich von Podcasts oder Büchern inspirieren.
Das heisst auch, dass der Glaube sich organisch und authentisch mit all den verschiedenen Lebensbereichen verbindet.
Die Glaubenspraxis ist nicht auf einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit der Woche oder eine bestimmte Gemeinschaft begrenzt, sondern kann überall stattfinden (wie ich es übrigens auch in der Bibel wahrnehme!).
Die #digitaleKirche
Die sozialen Netzwerke können eine wichtige Rolle spielen.
Ich persönlich habe vor allem über Twitter ein Beziehungsnetz gefunden, das meine offline-Freundschaften auf eine ganz spezielle Art ergänzt.
Einerseits gibt es dort einen Austausch über ganz spezifische Themen und Fragen, den ich offline nie in dieser Regelmässigkeit und Intensität betreiben könnte.
Andererseits entstehen persönliche Freundschaften, die sich teilweise auch ins «RL» übertragen haben, ins reale Leben. Ich habe den Eindruck, die Menschen dort zu kennen wie in einem Dorf.
Die #digitaleKirche ist ein Ort, an dem man einander gegenseitig unterstützt.
Man retweetet oder repostet Fragen nach einer neuen Stelle oder nach einem gesuchten Buch, trägt einander aber auch in Gedanken oder Gebeten. Ich habe selten so viele Herzen erhalten wie bei diesem Tweet:
Und zwar – und das finde ich einzigartig – auch von Menschen, die ich offline niemals in einer Kirchgemeinde antreffen würde.
Fragen und Herausforderungen zum Indie-Christsein
Was sind mögliche Probleme und Herausforderungen in dieser Art, Glauben zu leben?
Den Haupt-Knackpunkt sehe ich darin, dass Menschen Anschluss an dieses Netzwerk von «freien Christ*innen» erhalten.
Wenn man, wie ich es selber erlebt habe, eine kirchliche Gemeinschaft verlässt, kommt man sich sehr alleine vor. Wie erfährt jemand in dieser Situation, dass es möglich ist, als Indie-Christ*in zu leben?
Vielleicht wäre es mir damals anders ergangen, wenn das Internet schon so weit gewesen wäre wie heute. Ich hätte online Artikel, Podcasts und Menschen gefunden, die mich inspirieren.
Andererseits sind wir Indie-Christen selber gefragt:
Ich treffe häufig Menschen, die Indie-Christ*innen sind, ohne es zu wissen. Es ist mir wichtig, ihnen Ressourcen vorzuschlagen, für Gespräche da zu sein, sie mit anderen Menschen zu vernetzen, damit sie merken, dass wir viele sind.
Kein Handbuch «Indie-Christsein für Dummies»
Es gilt, auszuhalten, nicht zu einer einzigen festen Gemeinschaft zu gehören.
Dafür gibt es aber auch kein «wir» und «sie».
Die Verbindung, die zwischen Indie-Christ*innen und anderen «himmlischen Weltverbesserern» besteht, ist die heilige Geistkraft, die sich nicht in eine Schublade pressen oder mit einem konfessionellen Label versehen lässt.
Indie-Christsein heisst auch, dass die theologischen Grundlagen einem nicht einfach vorgekaut werden.
Es gibt kein Handbuch «für Dummies».
Dafür ist man ständig im Austausch, theologisch, lebenspraktisch. Und die Gefahr, dass der Glaube einschläft und zur Routine wird, ist klein.
Fehlende kirchliche Rituale
Als ich eine Zeitlang ganz ohne Kirchenbesuche und explizit christliche Gemeinschaft lebte, fehlten mir vor allem liturgische Rituale. Das Abendmahl und das gemeinsame Singen.
Heute besuche ich ziemlich regelmässig einen Gottesdienst, der jedoch keiner spezifischen Gemeinde angeschlossen ist. Dort habe ich die Gelegenheit zu Abendmahl und geistlichen Liedern.
Allerdings kann ich mir sehr gut auch vorstellen, das Abendmahl freier zu pflegen: Indem bei einem gemeinsamen Essen ganz bewusst ein Moment eingelegt wird, in dem man sich daran erinnert, welche Kraft, oder besser: welche Person einander verbindet.
Ich fand das Buch «Searching for Sunday» von Rachel Held Evans sehr hilfreich (Deutsch unter dem unglücklichen Titel «Es ist kompliziert«).
Darin erzählt sie ihre eigene Geschichte mit der Kirche und geht parallel dazu den sieben Sakramenten der orthodoxen Kirchen auf den Grund. Sie sucht danach, was diese ursprünglich bedeuten und wie man dies auf heute übersetzen könnte.
Mit dem Buchtipp bin ich bei der nächsten Herausforderung gelandet:
Theologische Impulse
Woher erhalten Indie-Christen, die keine regelmässigen Gottesdienste mehr besuchen, theologische und geistliche Impulse?
Bei mir sind es neben dem Theologiestudium, womit ich ohnehin ein Spezialfall bin, zwei Quellen:
- Gespräche mit anderen Menschen, die einen inspirieren
- Podcasts und Bücher mit «food for thought»
Vor allem im englischsprachigen Raum gibt es dazu viele inspirierende Quellen, aber mittlerweile kenne ich auch in deutscher Sprache Podcasts und Bücher dazu. Ich werde sie in Kürze auf der «Link«-Seite sammeln.
Vor allem für Menschen, welche sich im Glauben in einem Dekonstruktionsprozess befinden und deshalb eine kirchliche Gemeinschaft verlassen haben, sind konstruktive Impulse ganz wichtig.
Es ist für das weitere spirituelle Leben zentral, Glaubensinhalte und eine Glaubenspraxis zu finden, an denen man sich festhalten kann.
Ist das die Kirche der Zukunft?
Es gibt christlichen Glauben ausserhalb der kirchlichen Institutionen. Das klingt völlig selbstverständlich, aber gerade wenn man von Kind auf kirchlich sozialisiert wurde, ist es das eben nicht.
Wenn ich mir überlege (auch im Hinblick auf meine irgendwann-mal-wahrscheinlich-Ordination), was meine Kirche ist, dann lande ich immer wieder beim Indie-Christen-Netzwerk.
Vielleicht ist das die Kirche der Zukunft: Ein Netzwerk von «freien Jesusnachfolger*innen», wie es Reto Nägelin nennt.
Ein Netzwerk, in dem die gleichen «Gaben des Geistes» (1Kor 12,4-11) und die gleichen «Ämter» (Eph 4,11) vorhanden sind und geteilt werden wie in der traditionellen Kirche.
Indie-Apostelinnen, Indie-Propheten, Indie-Hirten und Indie-Lehrerinnen.
Denn ich weiss, dass es noch mehr Leute gibt wie mich, denen diese lose Gruppe von Menschen so am Herz liegt, dass sie es als «Berufung» bezeichnen würden.
Wie machst du das?
Als Theologiestudentin bewege ich mich mit meinem «Indie-Christsein» dennoch in einer Bubble und habe das Privileg, mich «beruflich» mit solchen Fragen auseinanderzusetzen.
Ich bin sehr interessiert daran, wie andere Menschen als Indie-Christ*innen unterwegs sind.
Schreib mir gerne einen Kommentar unter diesen Artikel! Danke!
Die Kirche ist eigentlich die Gemeinde und umfasst alle Gläubigen, die Gottes Friedensangebot am Kreuz von Golgota angenommen haben. Umkehr und Taufe im Wasser bildeten die Grundlage. Die ersten Christen lebten gemeinsam aus der Kraft des Heiligen Geistes heraus und teilten ihre Gaben miteinander. Die Apostelgeschichte gibt einen starken Einblick in den Alltag – siehe beispielsweise Kapitel 2 bis 4! Ziel war es, als himmlische Familie das Evangelium zu verkünden und Menschen zu Nachfolgern von Jesus zu machen….
Liebe Evelyn da ich Reto kennen gelernt habe bin ich auch dir begegnet. Danke für deine Offenheit.
Was mich sehr freuen würde, wenn ich erfahren dürfte wie du denn den Glauben wieder gefunden hast. Du hast das angetönt im IGW Vortrag.
Ob du mir oder Öffentlichkeit das erzählst? Wäre wertvoll.
Liebe Grüsse
Ursula *********
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Vielen Dank für diese Überlegungen. Ich finde den Begriff «Indie-Christ*innen» sehr glücklich gewählt, denke übrigens selbst in eine ganz ähnliche Richtung, bin fasziniert von dem Phänomen und halte es für enorm wichtig, dieser Spur weiter nachzugehen. Wenngleich wir einander persönlich noch nicht begegnet sind, fühle ich mich Ihnen und Ihren Überlegungen zutiefst verbunden – und wünsche Ihnen mit Ihrer Arbeit weiterhin viel Erfolg!
Danke auch für diesen Text:
https://www.reflab.ch/indie-christen-nomadinnen-zwischen-lagerfeuern/
Hoi liebe Evelyne
Eine spannende Seite die Du da hast!
Wie ich gedanklich im Glauben unterwegs bin findest Du unter :
http://www.neben-eden.ch
Auch ich habe meine Erfahrungen vorallem mit Freikirchen gemacht, viele nehmen es mit der Nächstenliebe nicht so ernst .
Ich würde mich über einen Austausch mit Dir freuen.
Liebe Gruess Rita