Das Kreuz brennt auf meiner Haut

Jedes Jahr suche ich nach der Bedeutung von Ostern. Ich frage Freunde und Bekannte, was das Fest ihnen bedeutet, lese Artikel und mache mir viele Gedanken. Dieses Jahr probierte ich das Ostergeschehen über zwei verschiedene, sinnliche Zugänge zu erfassen.

Warum mir Ostern jedes Jahr solches Kopfzerbrechen bereitet, darüber habe ich letztes Jahr bei Lea im «Ref-Lektionen»-Blog geschrieben. Ich wärme das jetzt hier nicht wieder auf.

Mein Fazit damals:

Das biblische Ostergeschehen ergibt für mich rational (noch?) keinen Sinn.

Deswegen versuche ich neben der Beschäftigung mit systematisch-theologischen Zugängen seine Bedeutung über sinnlichere Zugänge zu erfassen – Musik, Kunst, Natur, Rituale.

Zwei spontane Experimente

So trug ich dieses Jahr am Karfreitag eine Halskette mit einem Kreuz und tauchte am Ostermorgen in den eiskalten Zürichsee.

Beides habe ich nicht so geplant, sondern folgte dabei einer spontanen Idee.

Was diese Experimente mit mir gemacht haben, darüber schreibe ich in diesem Blogpost.

Disclaimer: Ich bin Theologiestudentin im 6. Semester und also noch ziemlich am Anfang. Viele der folgenden Gedanken wurden bestimmt schon ausgiebig theologisch erforscht. Ich verweise dort auf Theolog*innen und Texte, wo ich sie kenne.

Person vor Morgenroete

«Kreuz tragen» als Zeichen des Gedenkens

Sonst trage ich nie ein Kreuz.

Nicht, weil ich mich nicht als Christin outen will. Dies habe ich kürzlich sehr öffentlich in einem Porträt des Migros Magazins getan (Ausgabe 15/2019).

Sondern genau aus dem Grund, weil sich mir die Verbindung des Kreuzesgeschehens mit meinem eigenen Leben nicht wirklich erschliesst. (Falle ich damit in die Kategorie der Verlorenen nach 1Kor 1,18?)

Am Karfreitag schien es jedoch zu passen – als Zeichen des Gedenkens.

Würde mich jemand darauf ansprechen, könnte ich ziemlich einfach auf Karfreitag verweisen. Niemand würde sich an diesem Tag von einem Kreuz provoziert fühlen.

Es fühlte sich ziemlich ungewohnt an, mit einem gut sichtbaren Kreuz herumzulaufen.

(Übrigens ein Erbstück meiner Urgrossmutter, das meine Mutter kürzlich im Nachlass ihrer Tante entdeckte und mir schenkte.)

Eines bewirkte das Kreuz:

Es erinnerte mich an diesem so gar un-karfreitagigen, sonnigen, heissen Frühlingstag immer wieder daran, dass es kein normaler Tag war.

Manche tragen ein Tattoo mit einem Zitat oder einem Bild, dessen Bedeutung sie immer vor Augen haben wollen. Ich vermute, dass man sich an so etwas doch recht schnell gewöhnt und es nicht mehr bewusst wahrnimmt.

Genau weil ich aber sonst nie ein Kreuz trage und weil es sich für mich so ungewohnt anfühlte, machte es etwas mit mir.

Es war unbequem.

Manchmal schien die Sonne direkt auf das Kreuz und erwärmte es so stark, dass es mich fast ein wenig brannte auf der Haut.

Dann fiel es mir wieder ein und ich «gedachte».

Es blieb bei diesem einen Tag Kreuz-tragen. Zum grossen Brunch am Karsamstag und auf die Wanderung mit einem neuen Bekannten an Ostern trug ich es nicht mehr.

Die Auseinandersetzung mit diesem «Schmuckstück» war etwas Persönliches, etwas, das erst mal nur etwas mit mir zu tun hatte.

Ich betreibe «Aneignungsdidaktik» an mir selber

«Zeichen des Gedenkens», habe ich weiter oben geschrieben.

Momentan besuche ich ein Seminar im Fach Religionspädagogik über «Erinnerungslernen». Es geht um den Umgang mit dem Thema 2. Weltkrieg, Schoah/Holocaust im (Religions-)Unterricht.

Wir befassen uns mit Erinnerung, Gedenken, Menschenrechtspädagogik. Mit der Frage, wie Jugendlichen die Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 nicht nur als Teil der historischen Bildung vermittelt werden, sondern wie sie sie mit ihrem eigenen Leben in Verbindung bringen können.

Was hat das mit mir zu tun?

Einige Fetzen aus der bisherigen Lektüre in diesem Seminar – obwohl sie in einem ganz anderen Kontext stehen – gingen mir vor Ostern durch den Kopf.

Reinhold Boschki schreibt darüber, dass es «Aneignungsdidaktik» braucht, um Jugendliche ins Gedenken zu führen. Ortsbegehungen, aktive Auseinandersetzung mit Biografien, soziale Prozesse. (Erinnern – gedenken – lernen, in Nickolai / Schwendemann 2013.)

Weiter definiert er «Geschichtsbewusstsein» als das bewusste Verknüpfen von Vergangenheit und Gegenwart.

Genau das, was ich suche: Was hat Karfreitag/Ostern, Tod und Auferstehung Jesu Christi mit mir zu tun?

Vielleicht ist das Tragen eines Kreuzes eine Art «Aneignungsdidaktik» für mich selbst.

Es ergänzt die rationale Auseinandersetzung, die z.B. im Lesen der Passionsgeschichten in den Evangelien geschieht, oder der theologischen Deutungen des Kreuzesgeschehens in den Briefen des Neuen Testamentes. Oder auch im Kennenlernen verschiedener systematisch-theologischer Positionen.

Und Ostern?

Dieses Jahr bot sich das Wetter am Ostermorgen für einen Sonnenaufgangs-Spaziergang an.

Morgenroete Sonnenaufgang

Der Himmel hätte nicht spektakulärer sein können.

Kurz vor Sonnenaufgang war die Welt in weiches rosarotes Licht getaucht. Die Farben der Wolken wechselten von Blutrot über Pink zu warmem Orange und Gelb.

Mit der Sonne auftauchen

Meine Freundin und ich spazierten über den Holzsteg in Rapperswil zum kleinen Kirchlein in Hurden (Tipp!). Und als die Sonne über dem Horizont aufging, wagten wir uns ganz kurz ins Wasser.

Es war nicht nur erfrischend, sondern eiskalt!

Der Moment, als die Sonne auftauchte, berührte mich zutiefst. Wo vorher der unglaublich bunte Himmel und die ins erste, feine Sonnenlicht getauchten Bergspitzen waren, dominierte nun das warme, helle, fast gleissende Licht der Sonne.

Sie überstrahlte alles.

Diese Kraft!

Sonnenaufgang
Photocredit: Dieses Foto und das Titelbild des Artikels hat Nina F. gemacht. Danke!

Christus ist auferstanden – ja, vor 2000 Jahren. Und heute?

Symbolisch steht für mich die Auferstehung für Gottes Kraft, Neues zu schaffen.

Hoffnung in dunklen Stunden, dass es wieder hell wird. Liebe, die Situationen verändert. Schönheit, die zutiefst berührt.

Eine Verbindung mit anderen Menschen, mit der Welt als solcher, mit der Natur.

Gott des Neuen

Auch die Grundbausteine der Prozesstheologie kamen mir in den Sinn, in die ich mich momentan einlese.

Sätze wie die folgenden:

«Die göttliche Realität wird als Ursache von Erneuerung verstanden. (…) Die Quelle der Erneuerung ist der Logos, dessen Inkarnation Christus ist. Wo Christus präsent ist, findet schöpferische Transformation statt.»
(An introduction to Process Theology, Cobb/Griffin 1976. Übersetzung EB)

«Der auferstandene Jesus ist die göttliche Präsenz jenseits aller räumlichen und zeitlichen Begrenzung. (…) Die Auferstehung ist weniger ein Wunder als eine Erscheinung dessen, was immer wahr war und immer wahr sein wird.»
(Eager to Love: The Alternative Way of Francis of Assisi, Rohr 2014. Übersetzung EB)

«Durch die schöpferische, abenteuerliche Erneuerung in Gott enstehen neue Chancen aus den Sackgassen (‹dead-ends›) und den todbringenden Wegen der Welt. In Jesus Christus geschah schöpferische Transformation und sie geschieht auch weiterhin, indem eine neue Art des Mensch-Seins begründet wird. Das Wort vom Kreuz ist kein Wort der Verdammnis, sondern eine Einladung. Es erlaubt der Glaubenden, ihre eigene Realität und die der Welt zu sehen, sich Christus zuzuwenden und Teil der schöpferischen Transformation der Welt zu sein.»
(Homebrewed Christianity Guide to Jesus, Fuller 2015. Übersetzung EB)

Verstehen durch die Auferstehung

Das Kreuz (und die Auferstehung!) als hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis meiner selbst und der Welt – soweit bin ich noch nicht.

Ich komme dem Geheimnis höchstens langsam auf die Spur.

Vielleicht bleibt es auch immer so fragmentarisch. Bleibt das Ostergeschehen ein Rätsel, wovon ich nicht mehr als eine Ahnung habe.

Wahrscheinlich.

2 Antworten auf „Das Kreuz brennt auf meiner Haut“

  1. Vielleicht, nicht nur vielleicht aus meiner Sicht, ist das was du erlebt hast ein Gleichnis für das Ostergeschehen (Karfreitag eingseschlossen). Die Bibel ist voller Gleichnisse, die theoretische Wahrheiten verdeutlichen, damit wir Menschen sie uns aneignen (zu eigen machen) können, immer mehr davon begreifen. Wie du das auf Insta beschrieben hast, finde ich echt berührend.
    (gibt es den Text oben auch in deutsch?)

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